Spanien und Deutschland: Eine literarische Reise

Literatur bietet einen Begegnungsraum, sie ist ein Austauschort zwischen Menschen und Kulturen. Und sie kann ein Sprungbett für das Nachdenken über europäische Beziehungen schaffen. Drei kurze Exkurse in die Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts zeigen uns, inwiefern Spanien und Deutschland eine gemeinsame (literarische) Geschichte teilen, die keine Krise auslöschen wird.

Unser erster Exkurs führt uns nach Prag, wo sich der junge Rainer Maria Rilke mit Leidenschaft der spanischen Kunst, Kultur und Geschichte widmete. Erst Jahre später entschied sich Rilke, nach Spanien zu fahren, um das Land selbst zu entdecken. Aus Duino in Norditalien schrieb er dem Verleger Anton Kippenberg: „Ich gedenke nämlich, diesen Herbst und soweit als möglich einen Teil des Winters in Spanien zu verbringen, wie Sie gleich verstehen werden, nicht als Turist, der sich eilt, sondern ich meine mich in Toledo niederzulassen und dort zu wohnen“. Am 2. September 1912 kam er in Madrid an und fuhr von dort schnell nach Toledo. Rilke war vollkommen fasziniert von der Stadt, von der er so viele Male in Prag gelesen und geträumt hatte. Vom hochgelegenen Toledo aus beschloss der Dichter weiterzureisen: Sein Ziel sah er in Ronda. Das kalte Wetter in Toledo trieb ihn in den Süden Spaniens, wo er nach zwei kurzen Aufenthalten in Córdoba und Sevilla von der Schönheit Rondas erfuhr. Als Rilke in der malerischen, über einer tiefen Schlucht liegenden Kleinstadt ankam, schrieb er: „Ich habe überall die geträumte Stadt gesucht, und endlich habe ich sie in Ronda gefunden“. Rilke blieb bis zum 18. Februar 1913 in seiner Traumstadt. Der Eindruck, der ihm von dieser Begegnung hinterlassen wurde, ist so groß, dass er erst in Ronda begann, über seine Erfahrungen in Spanien zu schreiben. Rilke war ein Grenzgänger, durch dessen Begeisterung die Tradierung eines romantischen Bildes von Spanien in Zentraleuropa möglich wurde. Aber nicht nur das, denn seine Liebe zu Spanien erweckte seitdem das Interesse vieler spanischer Intellektueller, die das gesamte Werk Rilkes studierten und ins Spanische übersetzten. Es fing mit einer kurzen Reise am Anfang des 20. Jahrhunderts an, aber es führte zu einem dauerhaften Kontakt zwischen der spanisch- und deutschsprachigen Literatur, die sich noch heutzutage von der magischen Anziehungskraft von Rilkes Werk inspirieren lässt. Ein zeitgenössisches Beispiel dafür ist der zweite Roman Eugen Ruges, der den Ich-Erzähler ebenso nach Andalusien führt. Erschien 2013, Cabo de Gata erzählt von einem Schriftsteller, der in einer allgemeinen Krise steckt, die ihn am Schreiben hindert. Um diese loszuwerden, beschliesst er aus purer Irrationalität in das kleine Fischerdorf Cabo de Gata im Süden Spaniens zu fliehen. Diese Entscheidung trifft er unbewusst beim Ansehen des Films Un chien andalou („Ein andalusischer Hund“, Buñuel/ Dalí, 1929). Der Einfluss von Rilke und anderen europäischen Romantikern wie Mérimée ist in Ruges Roman immer wieder zu spüren: Im Laufe seiner spanischen Reise Richtung Süden weist der Ich-Erzähler darauf hin, diese romantischen Stereotype zu dekonstruieren bzw. zurückzugewinnen. Über die Sonne des andalusischen Dorfes sagt er: „die Sonne glimmt auf über dem schwarzen Gebirge, sie strahlt, breitet sich aus, schickt ihre lebenspendende Wärme in die Welt, und es scheint mir, dem Ungläubigen, angesichts dieser Sonne plötzlich ganz und gar abwegig, ja geradezu verrückt, an der Existenz Gottes zu zweifeln” (Ruge, 2013: 103). Aber Ruges Roman trägt nicht nur deshalb den Stempel einiger Autoren der Romantik, die in Spanien ihr Traumland erfanden. Dem Literaturwissenschaftler Domínguez zufolge sei die schwangere Katze, der der Ich-Erzähler in den Strassen Cabo de Gatas immer wieder begegnet und deren Blick zu den geheimnisvollsten Momenten im Roman führt, auch von Rilkes spanischer Reise beeinflusst. In einem Brief an die Prinzessin Marie von Thurn und Taxis schreibt der Dichter auch von einer schwangeren Hündin, die er in den Strassen Córdobas zufällig findet und deren Begegnung Rilke als „grenzenlose Verständigung“ beschreibt. Im Großen und Ganzen kann man Ruges Roman der Tradition der deutschen Romantiker in Spanien zuzuschreiben.

Ruges Roman. Foto: González de León

Foto: María González de León

Der bei Ruges erwähnte Film Un chien andalou führt uns zu unserem zweiten Exkurs und zeigt uns wieder, inwiefern Deutschland und Spanien ein literarisches Umfeld teilen. Wie oben erwähnt, wurde dieser Schwarzweißfilm von Luis Buñuel und Salvador Dalí geschrieben, die sich in der Residencia de Estudiantes kennengelernt hatten. Die Residencia de Estudiantes spielte eine wichtige Rolle in der Modernisierung der spanischen Bildung und leistete auch einen nicht zu unterschätzenden Beitrag für die geistliche Entwicklung vieler spanischer Autoren. In dieser im Jahre 1876 von der krausistischen Francisco Giner de Los Ríos gegründete Institution trafen sich nicht nur Buñuel und Dalí, sondern auch der junge Federico García Lorca, der als führende Figur der Gruppe spanischer Dichter der Generation von 1927 gilt. Diese Theatergruppe fungierte nicht nur als künstlerisches Zusammentreffen innerhalb der Residencia de Estudiantes, sondern auch als Zeichen für das Bedürfnis ihrer Bewohner, das klassische Theater in die Breite des spanischen Volkes zu bringen. Das Werk Lorcas versteht sich nicht ohne diese Jahre in der Residencia de Estudiantes; seine Bildung und Kreativität wurde auch von der krausistischen und liberalen Atmosphären geprägt und somit von der Weltkonzeption eines deutschen Philosophen.

Unser letzter Exkurs führt uns genau von der Residencia de Estudiantes in Madrid zurück nach Deutschland, nach Köln, wo der erste deutsche Übersetzer Lorcas geboren wurde. Enrique Beck, der unter dem Namen Heinrich Beck in der rheinischen Stadt 1904 auf die Welt kam, stammte aus einer Familie von Schriftstellern, Übersetzern und Dichtern, die im frühen nationalsozialistischen Deutschland einer der ersten Widerstandsbewegungen angehörten. Weil er als Mitherausgeber von Untergrund-Publikationen gegen Hitler arbeitete, entkam er infolgedessen im August 1933 nur knapp einem Angriff der Gestapo. Auf der Flucht über die Schweiz erhielt er Anfang 1934 das lang ersehnte Visum für die Einreise nach Spanien, wo er zunächst als Schriftsteller und Werbetexter arbeitete, bis er 1936 auf einige Gedichte des von Franco-Anhängern ermordeten García Lorca aufmerksam wurde. Seither war Enrique Beck so erstaunt von der Kraft von Lorcas Versen, dass er sich den Republikanern während des Spanischen Bürgerkriegs anschloss. 1938 kam Beck zurück in die Schweiz und begann dort das poetische Werk von Lorca zu übersetzen. In diesem historischen Kontext erschien 1948 die erste Sammlung von Lorcas Gedichten im Deutschen. Das über 100 seitige Buch ist der erste Versuch, die schwierige Welt des spanischen Dichters in die deutsche Sprache und Kultur zu übertragen. Durch das Lesen des Werkes Gedichte ist es einfach festzustellen, dass Enrique Beck ein Bewunderer von Lorcas Werk und des Spanischen war, das sich in Lorcas Welt versteckte. Er beschreibt Andalusien mit viel Leidenschaft, bestaunt die reiche spanische Kultur, dankt ihrem Volk für das, was er als Brüderlichkeit bezeichnet und endet mit den Worten: „Freiheit dem spanischen Volk!“. Ohne seinen Enthusiasmus und Liebe zu diesem damals noch fernen Land wäre ein Teil der Literatur Spaniens sicherlich weiterhin unbekannt geblieben, denn Becks Übersetzungen wurden im deutschsprachigen Raum sehr gut rezipiert. So waren beispielsweise Thomas Mann, Georg Kaiser und Hermann Hesse von der Sammlung Gedichte begeistert. Wie bei vielen anderen literarischen Übersetzern bestand die große Aufgabe Becks darin, Vermittler zwischen der spanischen und der deutschen Kultur zu werden und die Besonderheiten beider Sprachen dem Leser näher zu bringen. Seit 2006, als die Enrique-Beck-Stiftung das Übersetzungsmonopol von Lorca gegen den Verlag Suhrkamp verlor, sind auch andere Übersetzungen Lorcas ins Deutsche zugelassen, u.a., die von dem Schweizer Prof. Dr. Gustav Siebenmann. Daher ist das Bild des spanischen Dichters im deutschen Raum komplexer aber auch vollständiger geworden.

Diese drei literarischen Exkurse haben uns von Deutschland nach Spanien und von dort zurück nach Deutschland gebracht. Sei es als romantischer Dichter, als erfolgreicher Autor, als begeisterter Übersetzer oder als interessierter Leser bietet die Literatur immer einen Raum der kulturellen Begegnung. Aber vor allem erweckt die Literatur in jedem von uns etwas Irrationales. So hat mir die Literatur beim Schreiben dieses Beitrags eine tiefe und doch unerklärliche Spur hinterlassen, wie zufällig aber gleichzeitig bereichend die Kontakte zwischen Menschen für das Verständnis unseres Europas sind. Möge der alte Kontinent weiterhin offen und gefühlsvoll bleiben.

Bibliografie:

Domínguez Macías, Leopoldo (2016): La imagen de Andalucía en Cabo de Gata de Eugen Ruge. Kongressvortrag an der Universität Valencia, 21. März 2016.
González de León, María (2011): Llanto por Ignacio Sánchez Mejías. Eine kontrastive Analyse der Übersetzungen von Beck und Siebenmann. Universidad de Salamanca. München, Grin Verlag.
Ruge, Eugen (2013): Cabo de Gata. Hamburg, Rowohlt.

Beitragsbild: Ronda. Public domain.

Empfohlene Zitierweise:

María González de León: Spanien und Deutschland: Eine literarische Reise. In: RUB Europadialog, 2016. URL: rub-europadialog.eu/spanien-und-deutschland-eine-literarische-reise (29.08.2016).

2 Comments on “Spanien und Deutschland: Eine literarische Reise

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