NATO-Gipfel – Allianzeinigkeit auf dem Prüfstand

Warum eine NATO Fahne auf einem sowjetischen Gebäude hängt?

Alle zwei Jahre treffen sich die Staats- und Regierungschefs der NATO Mitgliedsstaaten auf einem Gipfel, um die Politik der Allianz zu evaluieren und neue strategische Impulse zu beschließen; so auch in diesem Jahr am 8./9. Juli in Warschau. Auf dem Gipfel ging es vor allem darum, die Mitgliedsstaaten besser gegen die unterschiedlichen regionalen Bedrohungen zu wappnen. Es wurden bunte Photos geschossen und Hände geschüttelt, auch viele einigende Worte sind gefallen. Dahinter steckt jedoch ein großer Haufen an Uneinigkeit. Nicht überraschend, denn die 28 müssen konsensartig unterschiedlichen Bedrohungsperzeptionen und Interessen mit sehr endlichen Ressourcen und Fähigkeiten zum Kompromiss begegnen.

Ostflanke

Angesichts der Bedrohungsperzeption der baltischen Staaten, Polens und Rumäniens wurde vor allem die Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit der NATO Russland gegenüber verbessert. Die sogenannten “Frontstaaten” haben für eine dauerhafte Stationierung von Truppen geworben. Sie fühlen sich durch russische Manöver an ihren Grenzen, aggressive Nah-Interaktionen mit russischen Kampfjets, strategische Drohungen und Moskaus einschüchternde Rhetorik bedroht. Die übrigen NATO Staaten wollten lange Zeit keine dauerhafte Stationierung zulassen, um das politische Versprechen einzuhalten keine substantiellen Kräfte in den neuen Mitgliedstaaten aufzustellen, welches die NATO 1997 Russland gegeben hatte. Letztendlich fand man sich in der Mitte. Großbritannien, die USA, Deutschland und Kanada werden jeweils ein ungefähr 1000 Mann starkes, multinationales Batallion zusammenstellen und leiten. Diese sollen bis Anfang 2017 in Estland, Litauen, Lettland und Polen auf Rotationsbasis für sechs bis neun Monate stationiert werden. Das Stationierungsprojekt laufe „so lange wie nötig” sagte der NATO Generalsekretär Jens Stoltenberg in Warschau. Parallel dazu hat Washington veranlasst, Kampfgruppen in den östlichen Mitgliedsländern zu stationieren und schwere Waffen für Verstärkungskräfte vorwärts zu lagern.

Raketenabwehr

Seit 2010 arbeiten die Bündnispartner an einer Raketenabwehrfähigkeit, welche das Bündnisgebiet, ihre Truppen und die Bevölkerung vor einem Angriff mit ballistischen Raketen schützen soll. Ursprünglich eine Wunschvorstellung der Amerikaner, ist sie nach dem Ende des Kalten Krieges schrittweise nach Europa übergeschwappt. Inzwischen ist es ein Bündnisprojekt. Die USA stellen mit ihren see- und landgestützten Raketenabwehrsystemen in Europa bisher den Löwenanteil der NATO-Raketenabwehrfähigkeiten. Die Staats- und Regierungschefs haben in Warschau die sogenannte Erstbefähigung der NATO-Raketenabwehr erklärt. Das bedeutet, dass einige nationale Fähigkeiten zum Schutz gegen ballistische Raketen stationiert und funktionsfähig sind. Zudem wurden diese unter das politische Kommando der NATO gestellt. Bis zum Gipfel blieb jedoch unklar, ob diese Deklaration stattfindet. Lange enthielt Frankreich dafür ihre Zustimmung. Paris wollte sichergehen, dass das bisher vorrangig amerikanische System auch wirklich in die Kontrolle der Alliierten übergeht, also, dass die amerikanischen Schiffe in Spanien, das Radar in der Türkei und die Abfangraketen in Rumänien mit dem NATO System interoperabel sind. Die Kommandeure haben im Fall eines Angriffes nur Sekunden um zu entscheiden, ob das System Raketen abschießen soll oder nicht. Aus technischer Sicht ist das gemeinsam finanzierte Führungssystem der NATO noch nicht wirklich in der Lage, die Kontrolle zu übernehmen. Eine Übernahme hätte jedoch wichtige politische Konsequenzen. Die NATO Raketenabwehr würde Raketen abschießen, basierend auf Regeln, die von den Allianz-Botschaftern festgelegt worden sind. Bei einem NATO System übernimmt zudem die NATO Verantwortung für den Abschuss einer Rakete, aber auch für ein mögliches Verfehlen. Aus offiziellen Kreisen hieß es, man habe einen “guten Kompromiss gefunden.” Ferner sind die Mitgliedstaaten jedoch weiterhin in vielen Fragen der Raketenabwehr gespalten. Gegen welche Bedrohung müssen wir uns schützen? Was soll geschützt werden? Welche Rolle spielt die Raketenabwehr in der Verteidigung? Welche industriellen Interessen verfolgen wir? Wie bewerten wir die Wechselwirkungen zwischen der Raketenabwehr und Abrüstungsbemühungen? All das sind die offenen Fragen, die für die Zeit des NATO-Gipfels unter dem Tisch versteckt worden sind.

Künftige Nuklearstrategie der Allianz

Womöglich das heikelste Thema des Gipfels ist die Frage nach der künftigen Rolle von Nuklearwaffen in der Strategie der NATO. Schon 2008 bis 2012 gab es darüber einen heftigen Streit unter den Alliierten. Während einige Staaten, unter anderem Deutschland, die Niederlande und Belgien den Abzug amerikanischer Nuklearwaffen wünschten, waren die baltischen Staaten zusammen mit Frankreich und Polen dagegen. Nach einem langen Hin und Her hatte man sich auf den Verbleib der Waffen in Europa geeinigt und parallel Abrüstungsvokabeln in die offiziellen Dokumente eingeschleust. Dies überdeckte nur den Streit, löste die Interessenunterschiede jedoch nicht auf. Der Kompromiss war nur möglich, weil man damals Russland als Partner der NATO definierte. Das ist seit der Annexion der Krim 2014 nicht mehr der Fall. Daraufhin wurden Forderungen laut die Rolle der Nuklearwaffen zu stärken. Eine dieser Forderungen war die Reaktionszeit der für die Nuklearmission der NATO vorgesehener Jagbomber von den heutigen etwa 30 Tagen zu kürzen. Vor allem waren es die Mittel- und Osteuropäer, die auf eine “glaubwürdigere” Abschreckung gedrängt haben. Deutschland versuchte dem diplomatisch entgegenzuwirken. Der Warschauer Gipfel scheint jedoch, zumindest rhetorisch, nichts an der Rolle von Nuklearwaffen verändert zu haben. Obwohl ein sachlicher Dialog über die Rolle von Nuklearwaffen dringendst notwendig ist, sollte eine Entscheidung alles andere als ein ad-hoc gefasster, emotional bestimmter Kompromiss sein, der auf dem nächsten Gipfel wieder hinterfragt wird.

Klar ist, dass der NATO Gipfel in Warschau ein Erfolg war. 25 Jahre nachdem am 1. Juli 1991 der Warschauer Pakt in der polnischen Hauptstadt aufgelöst wurde, haben die NATO Mitgliedstaaten ihre Einigkeit gezeigt und ihre Muskeln spielen lassen. Viele Probleme und Meinungsdifferenzen bleiben jedoch erhalten und werden weiterhin in Brüssel ausgespielt. Erst nach dem Gipfel wird sich zeigen, ob die Entscheidungen in Warschau für alle Mitgliedstaaten ausreichend sind oder ob Ergänzungen nötig sind. Doch am spannendsten sind zunächst einmal die Reaktionen in Moskau: Wie wird Russland sich zu den Beschlüssen von Warschau verhalten?

Katarzyna Kubiak

Empfohlene Zitierweise:

Katarzyna Kubiak: Nato-Gipfel – Allianzeinigkeit auf dem Prüfstand. In: RUB Europadialog, 2016. URL: rub-europadialog.eu/nato-gipfel-allianzeinigkeit-auf-dem-pruefstand (09.07.2016).

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