Ein literarischer Brückenschlag. Zum Tod von Aharon Appelfeld
Anfang Januar verstarb der israelische Schriftsteller Aharon Appelfeld im Alter von 85 Jahren. In unzähligen Romanen warf er einen Blick auf die untergegangene Welt seiner Eltern und Großeltern. Ein Rückblick auf das Leben und Schreiben eines Menschen, der Brücken schlug.
An einem beliebigen Abend in der ersten Januarwoche des neuen Jahres 2018 traf ich zwei Freunde und Kollegen. Wir saßen bei Kaffee und Wein in einem Kaffeehaus in Tel Aviv nahe des Habima, jenem Theater, an dessen Begründung Max Brod, selbst Autor jedoch vor allem für die Rettung und Herausgabe der Schriften seines Freundes Franz Kafka bekannt, mitwirkte. Irgendwann im Verlauf unseres Gesprächs kamen wir recht beiläufig auf Aharon Appelfeld zu sprechen. Wir redeten über das hohe Alter des israelischen Schriftstellers und vor allem seinen Schreibfluss, der nicht abzureisen schien – mindestens alle zwei Jahre publizierte er einen neuen Roman, manchmal auch in kürzeren Abständen und von seinem Lektor, Yigal Schwartz, wissen wir, dass er gleichzeitig an mehreren Manuskripten arbeitete. Nur Stunden nach unserem Gespräch versiegte die so langanhaltende Erzählung über den Untergang des europäischen Judentums: In der Nacht vom 3. auf den 4. Januar 2018 verstarb Aharon Appelfeld im Alter von 85 Jahren.
Geboren wurde Aharon Appelfeld als Erwin in einem kleinen Ort nahe Czernowitz im damaligen Rumänien (heute Ukraine). Er durchlebte eine behütete Kindheit und wuchs in seiner Familie mit den sichtbaren Veränderungen auf, die das zentraleuropäische Judentum zu dieser Zeit erfuhr: Die Großeltern pflegten die alten Traditionen und hatten im Jiddischen ihre sprachliche Heimat, während die Eltern diese Welt bereits hinter sich gelassen hatten und untereinander sowie mit ihrem Sohn Deutsch sprachen. Zu Beginn der 1940er Jahre zerbrach diese Idylle mit dem zunehmenden nationalsozialistischen Einfluss: Die Mutter wurde noch im Ghetto ermordet, Erwin und sein Vater in ein transnistrisches Arbeitslager deportiert. Der kleine Junge entkam aus dem Lager und schlug sich jahrelang in den Wäldern Ost- und Mitteleuropas durch. Nach dem Krieg kam er nach Italien von wo aus er 1946 nach Palästina einreiste.
Auf der Suche nach einer neuen Sprache
In Palästina und später in Israel nahm Appelfeld nicht nur einen neuen hebräischen Namen an, sondern begann auch die Sprache zu lernen. Seine einstige Muttersprache vergaß er nicht, doch sie lag unter der sprachlichen Unordnung des Krieges, unter Jiddisch, Rumänisch, Russisch und Ruthenisch begraben. Keine der Sprachen lernte Aharon Appelfeld schreiben und, obwohl er kurz die Schule besuchte, reichte auch dies nicht, um Deutsch seine Literatursprache werden zu lassen. Eine solche begann er erst im Alter von 14 Jahren zu erlernen und zu entdecken.
Zu diesem Zeitpunkt war jedoch nicht klar, in welcher Form sie dann tatsächlich seine Literatursprache würde. Appelfeld arbeitete in der Landwirtschaft und schließlich brach der Unabhängigkeitskrieg aus. Doch gegen alle Widerwärtigkeiten schaffte er es, sich an der Hebräischen Universität einzuschreiben, von wo er seinen ganz eigenen Weg ging – sowohl in seiner Beziehung zur Sprache, als auch in Bezug auf das Verhältnis zum neu gegründeten Staat Israel, dessen Pathos und den zahlreichen Mythen. Im jungen Staat herrschte die Devise, dass man die Diaspora wie auch deren Kultur und Sprachvielfalt hinter sich gelassen habe. Der neue Jude sollte stark sein und sich selbst verteidigen, die Erinnerung an den Holocaust wurde an den Rand gedrängt.
Obwohl er Hebräisch als seine Schriftsprache schätzen lernte und von Anfang an großen Wert auf den Spracherwerb legte, setzte sich Aharon Appelfeld immer wieder kritisch mit der mit ihr verbundenen Sprachpolitik im jungen Israel auseinander. Auch aus dem einfachen Gefühl heraus, dass er sich nicht mit dieser und der damit einhergehenden Verneinung anderer jüdischer Sprachen und Kulturen, kurz der Verneinung der Diaspora-Kultur, identifizieren konnte. Gerade zu einer Zeit, zu der sich dieser negative Zugang verstärkte, studierte er an der Hebräischen Universität bei Martin Buber und Gershon Scholem und bewegte sich so in einem Umfeld, das stark von der deutschen Wissenschaftslandschaft und einer zentraleuropäischen (jüdischen) Kultur geprägt war. Appelfeld lernte Jiddisch und gewann Einblicke in die untergegangene Lebenswelt des assimilierten aschkenasischen Judentums als auch in jene traditionelle Kultur der Ostjuden. Dabei ging es ihm gerade nicht um die Abgrenzung von letzteren, sondern um eine Wertschätzung der europäischen Diaspora und den Versuch, eine kulturelle Verbindung zwischen jenem Judentum und jüdischer Kultur und Identität in Israel herzustellen.
Appelfelds Figuren leben ebenso in einem Spannungsfeld der Sprachen und Kulturen, die meisten von ihnen im Zentraleuropa der Zwischenkriegszeit beziehungsweise an der Schwelle zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Viele von ihnen, wie zum Beispiel die beiden Jungen Bruno aus Zeit der Wunder und Paul aus Alles was ich liebte, wachsen in einem deutschsprachigen Elternhaus auf. Die kulturelle und sprachliche Situierung führt gerade in der deutschen Übersetzung zu einem zweifachen Problem: Zum einen besteht die Gefahr, dass kein Bewusstsein dafür geschaffen wird, wie zentral Hebräisch als Erzählsprache für Appelfeld ist. Denn die Übersetzungssprache scheint auf fast natürliche Weise zu den Figuren zu passen, es ergeben sich kaum und wenn nur schwer erkennbare Diskrepanzen. Der oftmals schale Beigeschmack des Fremdseins in Übersetzungen fehlt hier. Zum anderen verliert die hebräische Sprache als universale „Übersprache“, die über der Lebenswelt der Figuren steht, ihre Bedeutung und damit ihre Funktion, Brücken zu schlagen.
Natürlich ist es dennoch wünschenswert, Appelfeld dem deutschsprachigen Leser bekannt zu machen beziehungsweise seine Stimme nun, da sein Schreiben versiegt ist, weiter lebendig zu halten. Dabei ist es aber von zentraler Bedeutung, sich seines sprachlichen Brückenschlags bewusst zu werden und ihn nicht deutschsprachigen Literatengruppen zuzuordnen – wie etwa jenen anderen bedeutenden, aus Czernowitz stammenden Dichtern Rose Ausländer und Paul Celan, um nur die beiden bekanntesten zu nennen. Denn man tut Appelfeld unrecht, wenn man seine Schriftsprache, seine einzige Literatursprache, missachtet in der er sich sicher und endlich beheimatet fühlte.
Erinnern und Vergessen
Immer wieder versuchte man, Appelfeld einzuordnen, ihn in ein Schema zu bringen und ein ums andere Mal setzte er sich dem entgegen, denn auch die Zuschreibungen „Holocaust-Autor“ und „Galut (Hebr. Diaspora, Exil)-Autor“ entsprachen ihm seiner Meinung nach nicht. Dennoch war er einer von sehr wenigen, die schon früh gegen das Vergessen anschrieben und sich durch Literatur aktiv erinnerten. Zuerst vergaß, oder vielmehr verdrängte jedoch auch der junge Aharon Appelfeld: Dies geschah vor allem in der Verneinung der eigenen Identität, um zu überleben, erst in Europa und schließlich in Italien. Als er später im jungen Staat Israel versuchte, diese Identität wiederzufinden, musste er jedoch feststellen, dass nun eine Verdrängung von anderer Seite stattfand: Die Holocaust-Überlebenden galten als schwach und die Losung der Figur des sich selbst verteidigenden und kämpfenden Juden, der sich nicht wie ein Schaf zur Schlachtbank führen lässt, bewirkte auch die Verneinung der Diaspora-Kultur.
Der Verdrängung und der lange vor allem an heroische Taten geknüpften Erinnerung in Israel setzte Appelfeld zuerst seine Gedichte, dann Kurzgeschichten und Novellen und schließlich die in kurzer und regelmäßiger Folge erscheinenden Romane entgegen. Der immer wieder einsetzende Erzählvorgang erinnert an Hannah Arendt und ihre Konzeptualisierung der (Un)Möglichkeit einer Bewältigung der Vergangenheit wie sie sie in ihrer Lessingpreis-Rede postulierte: „Sofern es überhaupt ein ‚Bewältigen‘ der Vergangenheit gibt, besteht es in dem Nacherzählen dessen, was sich ereignet hat; aber auch dies Nacherzählen, das Geschichte formt, löst keine Probleme und beschwichtigt kein Leiden, es bewältigt nichts endgültig. Vielmehr regt es, solange der Sinn des Geschehens lebendig bleibt – und dies kann durch sehr lange Zeiträume der Fall sein – zu immer wiederholendem Erzählen an.“ Das wiederholende Erzählen gehört zu den wohl markantesten Eigenschaften des literarischen Schaffens Aharon Appelfelds. Wiederholt führte er den Leser mit Hilfe eines Protagonisten zurück in dessen Orte der Kindheit und hielt der nicht-jüdischen europäischen Gesellschaft den Spiegel vor. Weitaus dominanter sind jedoch Erzählungen, die Ende der 1930er Jahre spielen und bereits auf den bevorstehenden Untergang beziehungsweise das Scheitern der Assimilation durch immer wiederkehrenden Antisemitismus verweisen oder von Flucht, Vertreibung und einem anhaltenden Umherirren in den Wäldern Mittel- und Osteuropas berichten.
1983 wurde er dafür mit dem Israel Preis geehrt und es war in den Jahren davor und danach, dass er endlich Bekanntheit erlangte. Dies sagt weniger über sein Schreiben aus, als über die Bereitschaft der israelischen Gesellschaft, sich mit diesem Kapitel der Vergangenheit auseinanderzusetzen und die bis dahin marginalisierten Stimmen zu hören. In der israelischen Literatur begann sich diese Veränderung in den 1980er Jahren Bahn zu brechen.
Gershon Shaked, der bedeutendste Historiograph der hebräischen Literatur, ging davon aus, dass Appelfelds Schreiben immer unter dem Shoah-Mythos stehe, wobei er erläuterte, dass sich die Shoah von einer historischen in eine mythische Zeitdimension bewegte. Dies wird anhand von Appelfelds Texten insofern deutlich, als dass er den Prozess der industrialisierten Vernichtung und Ermordung kaum thematisieret. Im Vordergrund stand bei ihm hingegen das zentraleuropäische Judentum während eines weiter gefassten Untergangprozesses. Beim Leser bleibt immer ein Gefühl der Bedrückung und Bedrohung zurück und wer aufmerksam liest, findet schnell Indizien dafür, dass die Erfahrung der Kafka-Lektüre diesen Erzählmodus ermöglichte.
Hebräischer Rückblick auf einen grenzlosen Raum Europa
Appelfeld schrieb nicht nur, um den Opfern und Überlebenden eine Stimme zu geben, sondern auch, um auf die untergegangene Kultur aufmerksam zu machen und ihre Bedeutung für eine jüdische Identität zu unterstreichen. Die Vermittlerrolle, die er gegenüber der israelischen Gesellschaft einnahm und die Tatsache, dass er nicht aus Europa schrieb, sondern als hebräisch schreibender Israeli, lässt die Bezeichnung Galut-Autor wiederum als nichtzutreffend erscheinen. In diesem Zusammenhang kam der Sprache erneut eine essentielle Bedeutung zu, denn er fand in ihr und damit auch in Israel seine neue Heimat und ließ damit die endlosen Zugfahrten in der zentraleuropäischen Diaspora hinter sich, die von da an nur noch seine Romane charakterisieren.
Sein Rückblick nach Europa spiegelt keine Perspektive auf eine ehemalige Heimat, Nostalgie ist in Appelfelds Novellen und Romanen nicht zu finden. Zwar erzählte er die Welt eines untergegangen aschkenasischen Judentums nach, doch es war nicht seine Welt, sondern die assimilierte seiner Eltern einerseits und die traditionelle seiner Großeltern andererseits. Darüber hinaus zeigte er Risse, kulturelle und nationale Spaltungen in der Gesellschaft und beschrieb einen tiefsitzenden Antisemitismus, der schon lange bedrohlich in der Luft lag. Dennoch schwingt die Verehrung der jüdischen Kulturen Europas mit und es war Appelfelds Ziel, eine Brücke zu schlagen, zu zeigen, dass diese Welt Teil des Judentums ist und dieses nicht nur aus den Idealen und Mythen des neu gegründeten Staates Israel besteht. Dadurch zeichnete er gleichzeitig nach, was Milan Kundera als so typisch für Zentraleuropa herausstellte: Die Menschen dieser Region seien Objekte und nicht Subjekte der Geschichte, so Kundera 1986 in der New York Review of Books. Sie bildeten eine Gemeinschaft, die nicht durch eine Sprache verbunden ist, sondern vielmehr dadurch, dass sie einem ständigen Wandel unterworfen wird und in keinen gefestigten Grenzen lebt.
In der Tat erschuf Aharon Appelfeld zwar literarische Räume, die durchaus strengen, fast geographischen Mustern folgen und sich zwischen den kulturellen Zentren, kleinen Städten und traditionell geprägten Orten in den Karpathen erstrecken, wie Yigal Schwartz gezeigt hat. Doch bewegen sich seine Figuren zwischen den einzelnen Punkten in einem scheinbar grenzlosen Raum, eine europäische Dimension, die für sein Erzählen zentral ist.
Appelfeld stellte sich in seinem Schreiben nicht auf die eine oder die andere Seite, sondern schuf eine Literatur des Zwischenraums. Gerade wenn man an die Texte hebräisch schreibender Autoren in Europa denkt, dann erhält dieser Brückenschlag zwischen den Welten neuen Sinn. Dennoch schrieb Appelfeld vorwiegend für ein israelisches Publikum und somit indirekt auch über Israel und für (jüdische) Israelis, denn er erinnerte sie an einen Teil ihrer Kultur, der lange Zeit nicht als Zeichen des kulturellen Reichtums, sondern der Armut angesehen wurde: die Vielfalt der Diaspora.
Bild: Public domain.
Bibliografie:
Arendt, Hannah, Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten. Gedanken zu Lessing, München 1960.
Schwartz, Yigal, Aharon Appelfeld: From Individual Lament to Tribal Eternity, Hanover, NH 2001.
Empfohlene Zitierweise:
Judith Müller: Ein literarischer Brückenschlag. Zum Tod von Aharon Appelfeld. In: RUB Europadialog, 2018. URL: http://rub-europadialog.eu/ein-literarischer-brueckenschlag-zum-tod-von-aharon-appelfeld (15.01.2018).