Europa und das Nuklearwaffenverbot
Am 10. Dezember 2017 wurde der Friedensnobelpreis an die International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN) vergeben – ein globales Netzwerk für eine atomwaffenfreie Welt. Die Geschäftsführerin Beatrice Fihn hat den Preis zusammen mit Setsuko Thurlow entgegengenommen, die den Atombombenabwurf auf Hiroshima überlebte. Das Norwegische Nobelkomitee hat ICAN gewürdigt, weil es auf die katastrophalen Konsequenzen der Nutzung von Nuklearwaffen aufmerksam gemacht hat und damit den Weg für den Vertrag über das Verbot von Kernwaffen bahnte.[1] Dieser Vertrag wurde von den NATO-Staaten einstimmig abgelehnt. Aber wieso?
Regelwerk für Nuklearwaffen
Ein umfassendes Regelwerk für Nuklearwaffen gibt es nicht. Viel mehr gibt es eine Menge an mehr oder weniger umfangreichen Verträgen, Mechanismen und ad hoc Initiativen, die die einzelnen Bereiche von Nuklearwaffen regeln. Bisher werden sie vor allem durch den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV) reguliert. Diesem gehören 191 Staaten an, also -außer Israel, Südsudan, Pakistan, Indien und Nordkorea – alle von den Vereinten Nationen anerkannten Staaten der Welt. Staaten, die im Moment der Vertragsverhandlung keine Nuklearwaffen besaßen, erklären damit den Verzicht des Erwerbs von Kernwaffen in der Zukunft. Staaten, die vor dem 1. Januar 1967 Nuklearwaffen besaßen (USA, Russland, Großbritannien, Frankreich, China) haben sich im Gegenzug dazu verpflichtet, ihre Nuklearwaffen vollständig abzurüsten.[2]
Größtenteils erfüllen Nicht-Kernwaffenstaaten ihre Verpflichtung im Rahmen des Vertrages. Nach Meinung vieler Experten und der Majorität der internationalen Gemeinschaft trifft dies jedoch nicht die eigentlichen Kernwaffenstaaten zu.[3] Zwar ist die Gesamtzahl an Nuklearwaffen weltweit gefallen, jedoch reduzieren hauptsächlich Russland und die USA ihre Bestände. Die verbliebenen Kernwaffenstaaten machen dagegen nur wenig Fortschritte auf diesem Gebiet. Zudem befindet sich die nukleare Abrüstung derzeit in einer Krise. Alle Staaten, die Nuklearwaffen besitzen, modernisieren ihre Arsenale und machen sie so für die nächsten Dekaden funktionsfähig.[4] Dazu beobachten wir sowohl eine Wiederkehr der nuklearen Rhetorik als auch eine wachsende Rolle von Nuklearwaffen in militärischen Doktrinen. So gibt es wenig Anhaltspunkte, die auf weitere Abrüstungsschritte hoffen lassen.
Die meisten Kernwaffenstaaten und ihre Verbündeten (z. B. europäische NATO-Staaten) bevorzugen eine schrittweise Abrüstung. Die setzt die Existenz bestimmter sicherheitspolitischer Bedingungen voraus, bevor Nuklearwaffen reduziert werden können. Einen anderen, normativ-basierten Ansatz präsentieren 122 Staaten, die am 7. Juli 2017 mit einem “Ja” für den Vertrag über das Verbot von Kernwaffen abgestimmt haben. Diese hoffen, dass die Stigmatisierung von Nuklearwaffen politischen Druck auf die Kernwaffenstaaten aufbaut und sie dadurch zur Abrüstung motiviert.
Viel wichtiger ist jedoch, dass sie mit dem Vertrag ein Umschwung in der Debatte über Nuklearwaffen geschafft haben. Denn bisher haben primär Kernwaffenstaaten einen allein sicherheitsbasierten Diskurs geführt. Das Nuklearwaffenverbot hat erst mal den Menschen in den Mittelpunkt gerückt.[5] Es unterstreicht das humanitäre Leid, welches mit der Explosion, Produktion, Tests und Lagerung von Nuklearwaffen verbunden ist, sowie die Machtlosigkeit von Staaten mit dessen Konsequenzen umzugehen. Die Vertragsparteien nennen zudem Umweltschäden und die, aufgrund der hohen mit Nuklearwaffen verbundenen finanziellen Ausgaben, unbefriedigten sozialen Bedürfnisse der Menschen als weitere Gründe, die für ein Verbot von Nuklearwaffen sprechen.
Europa und der Vertrag
Viele europäische NATO Staaten nahmen im Zeitraum 2013-2014 an drei Konferenzen in Oslo, Nayarit (Mexico) und in Wien teil, um über die humanitären Konsequenzen von Nuklearwaffen zu diskutieren. Sie haben aber dagegen gestimmt, als es um die Entscheidung ging, ob die Staaten ein auf den Treffen aufbauenden Vertrag zur Ächtung von Nuklearwaffen verhandeln sollen. Und obwohl sie mit den Verhandlungen die Gestaltung des Vertrages zu eigenen Gunsten nutzten konnten, enthielten sie sich ihrer Teilnahme. Die Niederlande waren hier eine Ausnahme, da das Parlament die Regierung zur Partizipation verpflichtete.[6] Folglich boykottierte dann aber auch Amsterdam den Vertrag.[7] Dafür gibt es einige Gründe:
Erstens bezweifeln die Europäer, dass ein Vertrag, an dem die Kernwaffenstaaten nicht beteiligt sind, etwas bringen wird. Denn die bisherigen nuklearen Abrüstungsbestrebungen fanden nicht aufgrund der normativen NVV Verpflichtung statt. Kernwaffenstaaten rüsten ab, wenn die politische Lage stabil und vorhersehbar ist, die Lagerung oder Modernisierung der Waffen zu teuer ist, und/oder wenn sie keinen Einsatzzweck für die Waffen sehen. Zudem haben Nuklearwaffen einen anderen Stellenwert in Sicherheitsdoktrinen als konventionelle Waffen. Deshalb lehnen viele einen Vergleich mit dem erfolgreichen Verbot von Streumunition, biologischen oder chemischen Waffen an dieser Stelle ab.
Zweitens wäre ein Vertrag, der den Besitz, den Transfer, die Stationierung von Atomwaffen anderer Staaten auf dem eigenen Territorium, den Einsatz und die Drohung mit einem Nuklearwaffen-Einsatz verbietet, entgegen der Doktrin, auf welcher die Allianz ihr Sicherheitsverständnis aufbaut. Denn die NATO-Staaten haben 2010 bekräftigt, dass “die NATO ein nukleares Bündnis bleiben wird, solange es Kernwaffen in der Welt gibt.”[8] Zudem erlauben Deutschland, die Niederlande, Italien, Belgien und die Türkei die Stationierung amerikanischer Nuklearwaffen auf ihrem Territorium und würden an ihrer Nutzung in Einsätzen mit beteiligt sein.
Drittens konnten oder wollten die Europäer gerade jetzt die Beziehung zu den USA nicht aufs Spiel setzen. In vielen Hauptstädten sieht man sich erneut ernsthaft von Russland bedroht. Zusätzlich stehen Ängste vor Terrorismus oder neu aufkommenden Kriegen im Raum. Dabei sind die USA und die – derzeit durch Präsident Trump schwankende – NATO-Solidarität ein unumgänglicher Garant für die europäische Sicherheit.[9] Also haben sich die europäischen NATO-Entscheidungsträger für die Allianz-Solidarität über die Solidarität mit der Weltgemeinschaft entschieden.10] Darüber, inwiefern der politische Druck seitens der USA den Europäern bei dieser Entscheidung geholfen hat, kann nur spekuliert werden.[11]
Wie weiter?
Zum Glück haben die Europäer ihre Botschafter zu der Verleihung des Friedensnobelpreises geschickt, als Anerkennung der zivilgesellschaftlichen Anstrengung und als Ehre für die Überlebenden der Bombenangriffe in Hiroshima und Nagasaki. Dies hat sie von den Kernwaffenstaaten abgehoben und ein Signal für die Zukunft gesetzt.[12]
Die Europäer müssen jetzt aber auch aktiv zeigen, dass sie das Ziel einer atomwaffenfreien Welt weiterhin unterstützen, damit sie ihre internationale Glaubwürdigkeit nicht verlieren. Im Rahmen des NVV müssen sie Ideen vorschlagen, die zu sichtbarer Abrüstung beitragen. Sie müssen destruktive Initiativen wie die von Donald Trump aufhalten, das Abkommen mit dem Iran zu stürzen. Sie müssen die drei NATO-Kernwaffenstaaten ermutigen ab- anstatt aufzurüsten. Sie müssen zur Stabilisierung der europäischen Sicherheitsordnung beitragen, indem sie selber bereit sind und Russland aktiv auffordern, kooperative rüstungskontroll,- sowie Transparentmaßnahmen einzugehen. Zudem müssen die europäischen NATO Mitglieder eine inhaltsbasierte Debatte führen, inwiefern ihnen die in Europa stationierten Nuklearwaffen wirklich einen Zuwachs an Sicherheit bringen.
Literaturhinweise:
[1] The Nobel Peace Prize for 2017, 6.10.2017, https://www.nobelprize.org/nobel_prizes/peace/laureates/2017/press.html.[2] Für eine detaillierte Übersicht der Vertragsverpflichtungen siehe: Otfried Nassauer, Der Atomwaffensperrvertrag – Oder: der nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV), 22.04.2004, http://www.bits.de/public/articles/nvv.htm.
[3] Report of the Open-ended Working Group. Taking Forward Multilateral Nuclear Disarmament Negotiations, United Nations General Assembly, 1 September 2016, point 21, http://undocs.org/A/71/371; Dunn Lewis, The NPT. Assessing the Past, Building the Future, The Nonproliferation Review, Vol. 16, No. 2, 2009, pp. 143-172; Jeffrey Fields, Jason Enia, The Health of the Nuclear Nonproliferation Regime. Returning to a Multidimensional Evaluation, The Nonproliferation Review, Vol. 16, No. 2, 2009, pp. 173-196; Lewis a. Dunn, The NPT, The Nonproliferation Review, Vol. 16, No. 2, pp. 143-172.
[4] Shannon Kile, Hans Kristensen, World Nuclear Forces, SIPRI Yearbook Online: Armaments, Disarmament and International Security, 2017; Kingston Reif, U.S. Nuclear Modernization Programs, Fact Sheets & Briefs, Arms Control Today, February 2017.
[5] Argumente für die Ächtung, ICAN, https://www.icanw.de/grunde-fur-ein-verbot/argumente-fur-die-aechtung/.
[6] Selma van Ostward, The Netherlands should actively negotiate an international nuclear weapons ban treaty, 23.05.2016, http://www.icanw.org/campaign-news/the-netherlands-should-actively-negotiate-an-international-nuclear-weapons-ban-treaty/.
[7] North Atlantic Council Statement on the Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons, 20.08.2017, https://www.nato.int/cps/en/natohq/news_146954.htm.
[8] Strategisches Konzept für die Verteidigung und Sicherheit der Mitglieder der Nordatlantikvertrags-Organisation, 2010, http://www.nato.diplo.de/contentblob/2978550/Daten/1854725/strat_Konzept_Lisboa_DLD.pdf.
[9] Merkels Bierzelt-Rede begeistert Trump, FAZ, 30.05.2017, http://www.faz.net/aktuell/politik/trumps-praesidentschaft/bierzelt-rede-von-angela-merkel-begeistert-donald-trump-15040105.html.
[10] z.B. Prime Minister Solberg congratulates ICAN on Nobel Peace Prize, Government of Norway, 6.10.2017, https://www.regjeringen.no/en/aktuelt/prime-minister-solberg-congratulates-ican-on-nobel-peace-prize/id2573840/.
[11] ICAN, US attempts to bully allies into inaction, 18.03.2017, http://www.icanw.org/campaign-news/us-attempts-to-bully-allies-into-inaction/; United States Non-Paper: “Defense Impacts of Potential United Nations General Assembly Nuclear Weapons Ban Treaty, 17.10.2016, http://www.icanw.org/wp-content/uploads/2016/10/NATO_OCT2016.pdf.
[12] Nina Berglund, Some envoys drop Nobel ceremony, 30.11.2017, http://www.newsinenglish.no/2017/11/30/some-envoys-drop-nobel-ceremony/, Gerard Taylor, Ambassadors boycott the Peace Prize, Norway Today, 1.12.2017, http://norwaytoday.info/news/ambassadors-boycott-peace-prize/.
Foto: Giyu (Velvia), 6. August 2005, Wish for abolition of nuclear weapon, no changes made, CC BY-NC-ND 2.0, https://www.flickr.com/photos/giyu/31871657/in/photostream/.