Für ein plurales Abendland? Moses Mendelssohns Jerusalem
Wieviel Integration ist möglich und wieviel Pluralität nötig? Eine Frage, die aktueller nicht sein könnte und dennoch bereits eine lange europäische Geschichte hat. Vor über 200 Jahren veröffentlichte Moses Mendelssohn seine Schrift Jerusalem und rief zu einer kulturell-religiös pluralistischen Gesellschaft auf, in der alle Mitbürger vor dem Staat gleich sind.
Unsere Kenntnis und Interpretation der Vergangenheit lässt uns Schlüsse auf die Gegenwart ziehen. Geschichte hilft uns Ereignisse zu verstehen, bestimmte Vorgänge in unserer Umgebung mit Besorgnis oder ohne große Hintergedanken zu sehen und dennoch ist es müßig, zeitgenössische Geschehnisse durch die Brille bestimmter historischer Ereignisse zu lesen. Natürlich kann es interessante und schlüssige Vergleichspunkte geben, aber die Umstände sind immer andere, denn Geschichte verläuft nicht kreisförmig.
Dennoch ist es möglich, auf Texte aus der Vergangenheit zurückzugreifen, sie vor einem bestimmten Hintergrund, einer Debatte neu zu lesen. In diesen Tagen, Wochen und Monaten ist der Begriff Abendland wieder in aller Munde. Mitunter ist gar von Sorge um dieses Abendland oder seiner Bedrohung durch eine fremde Kultur, eine fremde Religion die Rede. Diese Rhetorik ist keinesfalls neu: Auch in den 1950er Jahren diente der Begriff vor allem zur Abgrenzung gegenüber der Sowjetunion und bereits zu seiner Entstehungszeit wurde durch ihn die lateinische Welt von der griechisch-orthodoxen und islamischen – das heißt dem Morgenland – unterschieden.
Oft wird die christliche Prägung des Abendlandes angeführt; ob es nun absurder ist, dass eine Gesellschaft, die sich immer stärker von Religion entfernt gerade solche Termini benutzt oder aber, dass bereits hier der eher exklusive als inklusive Charakter dieser Argumentation klar wird, bleibe hier einmal dahingestellt. Letzteres ist auch eine Abgrenzung vom christlich-jüdischen Abendland; ein Begriff, der nicht weniger problematisch ist und nicht aus einer längeren Tradition heraus geboren wurde, sondern das Ergebnis einer Redefiniton in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist. Wolfgang Benz kritisiert diese Wortwahl unter anderem mit Hinblick auf antijüdische Bewegungen in der europäisch-jüdischen Historie.
Daher ist die Bezeichnung christliches Abendland in der Pegida Rhetorik oder im Wortschatz von AfD Parteimitgliedern einerseits eine Abwendung von einem problematischen, teilweise philosemtischen Begriff, gleichzeitig aber auch die Verweigerung, gemeinsame Ausgangspunkte und ethische Grundlagen verschiedener Kulturen und Religionen anzuerkennen.
Vom Ghetto nach Europa
Zu Beginn eines steinigen Weges vom Ghetto nach Europa steht eine historische Figur, die gerade in Deutschland lange mit ähnlich übertrieben positiven Assoziationen belegt wurde wie der obige Begriff: Moses Mendelssohn. Im Folgenden soll es darum gehen, sowohl einen kurzen Blick auf Mendelssohns Leben zu werfen als auch seine Schrift Jerusalem in einer Zeit neu zu lesen, in der die Trennung von Staat und Kirche mitunter groteske Züge annimmt und die Aufnahme einer „fremden“ Religion in die Gesellschaft wieder neu in Frage gestellt wird.
Moses Mendelssohn (1729-1786) wurde in Dessau geboren und wuchs dort unter traditionell jüdischer Erziehung auf. 1743 bekam er die gerade für mittellose Juden seltene Chance, nach Berlin zu ziehen – endgültiges Bleiberecht erhielt er aber erst 1763. Die Wache am Rosenthaler Tor, das vor allem für Waren und Vieh bestimmt war, vermerkte am Tag seiner Ankunft: „Heute passierten das Rosenthaler Tor sechs Ochsen, sieben Schweine, ein Jude“. Mit diesem Zitat beginnt der Journalist Amos Elon sein Portrait der deutsch-jüdischen Epoche, das in seiner deutschen Übersetzung den Titel Zu einer anderen Zeit trägt, im englischen jedoch unter The Pitty of it All zu finden ist und im Französischen und Hebräischen bezeichnenderweise Deutsches Requiem heißt.
Nicht nur Elon sieht Mendelssohn am Beginn dessen, was in Deutschland fälschlicherweise und mit Bezug auf das Goldene Zeitalter in Spanien als deutsch-jüdische Symbiose bezeichnet wurde. Der Bezug zur jüdischen Kultur Spaniens ist dabei nicht grundsätzlich abzulehnen, gerade da Mendelssohn selbst in einigen Punkten immer wieder an die jüdischen Philosophen aus Andalusien anknüpfte. Dennoch wird durch diese positiven Darstellungen allzu oft vergessen, dass die Integration nicht von vorneherein selbstverständlich war – vor allem nicht von nicht-jüdischer Seite und dass diese schließlich vor allem darauf beruhte, dass man religiöse Unterschiede akzeptierte und diese als Privatsache nicht dauerhaft in der Mehrheitsgesellschaft zur Debatte standen (zumindest in der Theorie, praktisch war die Integration und Assimilation schwierig und es ist fraglich, ob sie wirklich ganz gelang).
Mendelssohn war ein Vertreter der Aufklärung und ein Vorreiter der Haskalah, der jüdischen Aufklärung. Gleichzeit trat er unermüdlich als Verfechter gleicher Rechte für seine jüdischen Mitbürger ein. Von Königsberg bis in die Schweiz, von Dresden bis zum Elsaß gab es jüdische Gemeinden, die sich in Problemsituationen an Mendelssohn wandten. Seine philosophischen Schriften sind jedoch nicht explizit jüdischen Themen gewidmet, denn lange hielt er seine Religion für Privatsache. Dies änderte sich durch den öffentlich ausgetragenen Disput mit dem reformierten Pfarrer Johann Caspar Lavater, dessen Ziel es war, Mendelssohn zur Taufe zu bewegen.
Die Taufe als Mittel der Integration kam für Mendelssohn jedoch nicht in Frage. Für ihn musste es ausreichen, die Sprache zu erlernen, sich zu bilden und die Rechte und Pflichten des Staatsbürgers im jeweiligen Land auszuüben. Mendelssohn selbst war mit dem Westjiddischen aufgewachsen, behielt sich dessen Gebrauch aber nur für den privaten Raum vor. Er war fließend im Deutschen und Hebräischen und benutzte diese beiden Sprachen auch für seine Schriften – je nach Leserschaft. Außerdem lernte er autodidaktisch Latein und Griechisch sowie mehrere moderne europäische Sprachen (Englisch, Französisch und Italienisch).
Seine Bibelübersetzung aus dem Hebräischen ins Deutsche, geschrieben in Hebräischen Lettern, hatte das Ziel, seinen jüdischen Mitbürgern die deutsche Sprache näher zu bringen. Abgesehen davon war er der Meinung, dass die jiddischen Übersetzungen der Schönheit der hebräischen Sprache nicht Genüge täten, wohingegen die christlichen Übersetzungen zu weit vom masoretischen (traditionellen) Text abwichen. Mendelssohns Engagement für die deutsche Sprache ging so weit, dass er alle nichtdeutschen Publikationen verurteilte, unter anderem einen Lyrikband von König Friedrich II, der auf Französisch erschien.
Integration aber nicht Assimilation
1783 wurde seine Schrift Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum publiziert. Diese wird als erste moderne philosophische Erörterung über das Judentum angesehen, richtete sich aber vor allem – erkennbar daran, dass sie in deutscher Sprache verfasst wurde – an seine christlichen deutschen Mitbürger.
Jerusalem ist in zwei Abschnitte geteilt. Der erste ist vor allem eine theoretische Erörterung zum Verhältnis von Staat und Kirche, wobei Mendelssohn mit Kirche nicht die katholische oder protestantische meint, sondern lediglich die Organisationsstruktur der Religionen – er nennt auch explizit Judentum und Islam. Die Aufgabentrennung im Gesellschaftsszenario Mendelssohns ist klar geregelt. Die Religion tritt vor allem als Lehrende auf, um den Menschen zu erziehen. Entgegen dem Staat, der seine Gesetze durchsetzen will, hat sie jedoch keine Mittel zum Zwang. Nach Mendelssohn unterliegt die Religion also der freien Entscheidung des Menschen und er konstatiert: „Wer Augen hat, der sehe; wer Vernunft hat, der prüfe, und lebe nach seiner Überzeugung“.
Im zweiten Abschnitt wendet sich Mendelssohn dann explizit dem Judentum zu und macht in diesem Zusammenhang gegen Ende auch deutlich wo für ihn die Grenzen sind, wenn es darum geht, bei der Integration aufeinander zuzugehen. Zuerst geht es ihm jedoch darum, die Gesetzgebung im Judentum näher zu erläutern – vor allem im Hinblick auf die immer wieder vorgebrachten Vorwürfe, dass Integration unmöglich sei, wenn die Juden in der christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft nach eigenen Gesetzen lebten. Mendelssohn erklärt zwar, dass gemäß der ursprünglichen Verfassung Staat und Religion im Judentum eine Einheit bildeten, dies aber nur innerhalb eines spezifischen zeitlichen Rahmens Gültigkeit gehabt hätte.
Diese Argumentation beruht auf Mendelssohns Unterscheidung von ewigen Wahrheiten und Geschichtswahrheiten. Erstere haben einen universellen Anspruch, letztere sind nur in einem bestimmten historischen Kontext als Wahrheiten zu definieren. Die Gesetzgebung im Judentum ist demnach eine Geschichtswahrheit, sie ist verbunden mit dem Ereignis der Gesetzgebung am Berg Sinai. Lediglich die noachidischen Gebote, jene sieben universellen Gebote vor diesem Ereignis, sind in Mendelssohns Sichtweise ewige Wahrheiten. Gleichzeitig macht die sprachliche Formulierung der Gebote jedoch erneut deutlich, dass Religion auf Überzeugung und nicht auf Glaubensdogmen beruht: man fände lediglich die Formeln du sollst tun oder du sollst nicht tun, jedoch nicht du sollst glauben oder nicht glauben.
Mendelsohn ruft seine christlichen Mitbürger mehrfach als Brüder an – er streckt symbolisch die Hand aus und er wartet darauf, dass sie ergriffen wird, ist sich dessen jedoch nicht sicher: „Betrachtet uns, wo nicht als Brüder und Mitbürger, doch wenigstens als Mitmenschen und Miteinwohner des Landes […] und lasset uns, soviel es Zeit und Umstände erlauben, die Rechte der Menschheit mit genießen. Von dem Gesetze können wir mit gutem Gewissen nicht weichen, und was nützen euch Mitbürger ohne Gewissen?“ (138).
Er geht noch einen Schritt weiter und konstatiert, dass die Vielfalt der Menschen teil der Schöpfung sei, gegen den diese nicht angehen sollten indem sie von ihren Mitbürgern verlangten sich anzupassen: „Brüder! Ist es euch um wahre Gottseligkeit zu tun; so lasset uns keine Übereinstimmung lügen, wo Mannigfaltigkeit offenbar Plan und Endzweck der Vorsehung ist. Keiner von uns denkt und empfindet vollkommen so, wie sein Nebenmensch; warum wollen wir denn einander durch trügliche Worte hintergehen?“ (140). Gegenseitige Akzeptanz verhindere also Lüge und Betrug und damit weiteres Konfliktpotential. Wenn der äußere Druck zur Assimilatin jedoch zu groß würde, müsse man auf „bürgerliche Vereinigung Verzicht tun“ (137), könne aber dennoch die Mitmenschen im Staat „brüderlich lieben“ (137).
Die Akzeptanz durch die Mehrheitsgesellschaft spielte bei der Emanzipation der deutschen beziehungsweise europäischen Juden eine große Rolle und ihr Fehlen führte schließlich zum Scheitern. Immer wieder gab es positive Beispiele wie die Freundschaft zwischen Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing, die blühte, weil man eine gemeinsame Sprache fand und gleichzeitig große Unterschiede hinnahm. Bei der Idealisierung der Person Mendelssohn geht oft unter, dass er zwar die Emanzipation und Integration propagierte und dafür auch an das deutsche Judentum zu jener Zeit durchaus revolutionäre Forderungen stellte, doch Mendelssohn blieb immer observant, das heißt dass es für ihn auf Grund der Speisegesetze zum Beispiel unmöglich war, seinen Freund Lessing zu Hause zu besuchen.
Bereits in Mendelssohns eigener Familie wird sichtbar, dass der Druck von außen hoch war und seinen Tribut forderte. Sein bekannter Enkel Felix Mendelssohn-Bartholdy war bereits getauft und dennoch war er einer der ersten, der nun Opfer nicht des alten Religionskonflikts, sondern des neu aufkommenden Antisemitismus wurde: In seiner antisemitischen Schrift Das Judenthum in der Musik nahm Richard Wagner direkt Bezug auf Mendelssohn-Bartholdy und unterstellte ihm Unfähgikeit zu gemeinschaftlichen Gefühlen, die die Basis großer Musik bildeten.
Andere Beispiele für das Scheitern sind die Versuche, alternative Möglichkeiten zu finden, gerade zu einem Zeitpunkt als die Emanzipation zum Ende des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte: Der assimilierte Budapester Jude Theodor Herzl glaubte zwar, man habe die Toleranz von Europa gelernt, wusste aber gleichzeitig, dass sich jene, die er als Kulturvölker bezeichnete, nie ganz auf die jüdische Minderheit eingelassen haben. Daher gab es für Herzl nur eine Lösung, den „Judenstaat“.
„Noch gehören vielleicht Jahrhunderte von Kultur und Vorbereitung dazu, bevor die Menschen begreifen werden, daß Vorrechte um der Religion willen weder rechtlich, noch im Grund nützlich seien, und daß es also eine wahre Wohltat sein würde, allen bürgerlichen Unterschied um der Religion willen schlechterdings aufzuheben“ (79-80). Einige Jahrhunderte sind bereits vergangen, rein rechtlich gibt es keine Unterschiede mehr zwischen Bürgern verschiedener Religionen, die Umstände der Debatten haben sich geändert und dennoch fragt man oft mehr nach den äußerlichen Unterschieden als nach den grundlegenden Gemeinsamkeiten. Mendelssohn rief zur Integration auf und verlangte die Eingliederung von Minderheiten in Staat und Gesellschaft. Dabei sah er ein großes Problem in der fehlenden Offenheit und Toleranz der Mehrheitsgesellschaft – eine Problematik, die über die Jahrhunderte kaum an Aktualität eingebüßt hat. Kulturelle und religiöse Unterschiede müssten nach Mendelssohns Vorstellung akzeptiert werden, um das Miteinander in einem Staat, der auf bestimmten Regeln und Werten basiert, zu garantieren. Die derzeit viel beschworenen Werte des Abendlandes befürworten weder Ausgrenzung noch Intoleranz. Wie würde wohl ein weiser Nathan, den Lessing in Anlehnung an seinen Freund Mendelssohn gestaltete, im Europa des 21. Jahrhunderts auf die Frage nach der wahren Religion (oder Kultur) des Abendlandes antworten?
Bild: Public domain.
Bibliografie:
Elon, Amos, Zu einer anderen Zeit. Porträt der deutsch-jüdischen Epoche 1743-1933, München 2003.
Mendelssohn, Moses, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, Hamburg 2005.
Empfohlene Zitierweise:
Judith Müller: Für ein plurales Abendland? Moses Mendelssohns Jerusalem. In: RUB Europadialog, 2016. URL: rub-europadialog.eu/fuer-ein-plurales-abendland (31.05.2016).