Steckt Europa in der Krise?
Dortmund Hauptbahnhof im Juli 2016. Am Bahnsteig befinden sich bisher noch wenige Reisende als ich ihn betrete. Eine Frau spricht mich an. Sie fragt auf Englisch, ob dies das richtige Gleis für den ICE nach Berlin sei. Sie hält einen riesigen, ungeordneten Stapel Papiere in der Hand. Ihr Gesicht sieht müde aus, ihr Make-up ist verwischt. Sie steht sehr nahe am Bahnsteigrand. Eine Mitarbeiterin der Deutschen Bahn wird deshalb auf sie aufmerksam und nimmt sie beiseite. Nachdem die beiden Damen sich einige Minuten unterhalten haben, verlassen sie gemeinsam den Bahnsteig.
Die Frau durchlebte offenbar eine Krise. Situationen ähnlich der eben beschriebenen ereigneten sich in den vergangenen zwei Jahren zuhauf an deutschen und europäischen Bahnhöfen. Sie stehen für die hierzulande genannte „Flüchtlingskrise“ (in anderen europäischen Ländern „Migrationskrise“). Flucht kreuzte so gelegentlich auch die Lebenswege von Einwohnerinnen und Einwohnern des Globalen Nordens.
Bedrohliche Krisen und Krisenbewältigung
Diese und andere Krisen sind im medialen Diskurs omnipräsent. 2008 war von der Eurokrise und der Griechenlandkrise die Rede, dann – ab Februar 2014 – von der Ukrainekrise, seit Sommer 2015 von der Syrienkrise, mit der die Terrorismuskrise einhergeht, gefolgt von der Türkeikrise und derzeit wird die Katalonienkrise proklamiert. Im Zuge der zunehmenden Zustimmung für populistische Parteien – nicht nur in Europa – wird eine Krise der Demokratie bzw. eine Legitimitätskrise heraufbeschworen. Dabei wurde und wird all diesen Krisen das Potenzial zugesprochen, die Europäische Union in ihrer Existenz zu bedrohen.
Stellen diese Krisen tatsächlich so eine Bedrohung für das gemeinschaftliche europäische Projekt von Frieden und Wohlstand dar? Haben die vergangenen 70 Jahre nicht gezeigt, dass Europa – trotz aller Widrigkeiten und bei aller Verschiedenheit seiner Mitgliedsstaaten – noch jede Krise meistern konnte? Ebendies wird kritisiert: Die Europäische Union betreibe Krisenbewältigung, sie sei keine Union im eigentlichen, umfassenden Sinne. Es gibt eine Währungs-, doch keine Wirtschafts-, geschweige denn eine politische Union. Eine politische Union aber wäre die Voraussetzung für mehr Solidarität sowie Pflichten- und Chancengleichheit, konkret z.B. für ein funktionierendes Asylsystem.
Die Schwächen des derzeitigen europäischen Asylsystems sind durch die Herausforderungen der Fluchtmigration deutlich zutage getreten. Das erneut in Kraft gesetzte Dublin-Abkommen überfordert die Mittelmeerstaaten. Allen voran Italien und Griechenland tragen die Hauptlast bei der Erfassung und Erstversorgung von ankommenden Flüchtenden. Über eine dringend nötige Reform der europäischen Asylpolitik wird derzeit beraten. Tiefgreifende und nachhaltige Veränderungen sind jedoch nicht zu erwarten.
Krise – Ausnahmezustand oder Normalität?
Wie viel Gewicht wird diesen Krisen angesichts ihres medialen Überangebots beigemessen und kann ihnen beigemessen werden? Wir scheinen uns ja periodisch von einer Krise in die nächste zu bewegen. Der politische Diskurs ist gewissermaßen durch Krisen strukturiert. Somit sind Krisen schon wieder alltägliche Normalität. Der Großteil der Menschen stellt sich auf sie ein und erlebt sie weniger dramatisch als der Begriff es suggeriert.
Inwiefern entspricht der Begriff der „Krise“ eigentlich den als solchen bezeichneten Phänomenen? Immerhin impliziert Krise eine Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes, einen Ausnahmezustand, eine außergewöhnliche Situation. Diese erfordert eine kurzentschlossene Entscheidung, welche folgenschwere und irreversible Konsequenzen nach sich zieht. Was aber wird aus der diskursiven Sprengkraft von „Krise“, wenn der Ausnahmezustand ein permanenter wird, sich wiederholt – wenn die Ausnahme gar zur Normalität wird?
Potenzial der Krise
Wozu brauchen wir dann noch „Krise“? Das ganze „Drama um die Krise“ ist als eine Art Frühwarnung anzusehen. Etablierte Strukturen, erworbenes Kapital, Werte und Gedankengut sind in Gefahr oder könnten in Gefahr geraten. Das bedeutet, wenn von Krise die Rede ist, ist noch nicht alles verloren. Vielmehr besteht dann die Möglichkeit – die Notwendigkeit –, die Krise abzuwenden. Offenbar wird erst in der Verlautbarung der „Krise“ der Ernst der Lage klar, sodass Handlungsbereitschaft aufkommt. Der Krisendiskurs birgt also ein aktivierendes Potenzial. Je apokalyptischer das Narrativ, desto höher die Akzeptanz schärferer Maßnahmen, um wieder „Normalität“ zu schaffen.
Krise ist das, was Europa letztlich ausmacht. Allein in der diskursiven Auseinandersetzung mit Krisen können Lösungen eruiert, ihr fatalistischer Charakter zumindest entschärft werden. Auf Kritik folgt Krise als Voraussetzung für deren Bewältigung. Dieser Gedanke ist nicht neu, er bedarf aber der gelegentlichen Aktualisierung und Bewusstwerdung. Ob und inwiefern Krisen also das europäische Projekt bedrohen können oder nicht, hängt letztlich auch davon ab, wie wandlungs- bzw. entwicklungsfähig die Europäische Union ist. So wäre eine anhaltende, breit geführte Debatte über das europäische Demokratieverständnis nur wünschenswert, zumal die Kompetenzenverteilung auf nationaler und europäischer Ebene einen beständigen Reibungspunkt darstellt.
Eine europäische Meistererzählung
Auch wenn der „krisenhafte“ Charakter der Europäischen Union akzeptiert wird, stellt sich angesichts der zahlreichen, konkreten Herausforderungen die Frage nach dem Umgang mit Krisen. Anders formuliert: Wie kann die Europäische Union stabil bleiben, die europäische Integration vorangetrieben werden? Trotz der Verständigung auf das gemeinsame Motto „In Vielfalt geeint“ drängt sich die Frage nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner auf.
Kann es ein Narrativ, eine europäische Meistererzählung, geben, wie sie den einzelnen europäischen Nationalstaaten jeweils zugrunde liegt? Brauchen wir ein gemeinsames kulturelles Bewusstsein? Ich denke ja. Dabei scheint mir ebendieser kleinste gemeinsame Nenner bereits gefunden, doch nicht ausreichend „vermarktet“ zu sein. In Europa herrscht seit nunmehr über 70 Jahren Frieden. Obwohl es aktuell im Rahmen der katalanischen Unabhängigkeitsbestrebungen in Spanien Unruhen gibt, an Europas Rand, in der Ukraine, ein bewaffneter Konflikt mit Russland ausgefochten wird und vielerorts auf der Welt Kriege wüten, so haben es die in der Geschichte sehr kriegswütigen Europäer für eine gewisse Zeit geschafft, in Frieden und Zusammenarbeit zu koexistieren.
Gemeinschaftsprojekt Frieden
Für die Nachkriegsgenerationen, zu denen auch ich mich zähle, ist ein Leben in Frieden eine Selbstverständlichkeit. Angesichts der eben beschriebenen Konflikte und Krisen, die uns alle auf die eine oder andere Weise mehr oder weniger betreffen, angesichts der Tatsache, dass noch unsere Großeltern unter dem Zweiten Weltkrieg gelitten haben, ist diese Selbstverständlichkeit jedoch ein Trugbild. Dieser vermeintlich sichere Frieden ist kostbar und leicht zerbrechlich. Daher sollte er – von uns allen – stärker geschätzt und gehegt werden. Dies macht ihn wiederum zu einem Gemeinschaftsprojekt mit verbindendem Charakter. Dabei stünde ein solches europäisches Narrativ im Zeichen des Friedens meines Erachtens nicht im Widerspruch zu den nationalen europäischen Meistererzählungen, die auf Abgrenzung und Konflikt beruhen und darauf basierend starke Kollektivnarrative geschaffen haben. Vielmehr resultiert ersteres in logischer Konsequenz aus letzteren.
Angesichts dessen erscheint es geradezu grotesk, dass es in den einzelnen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union dermaßen an Solidarität mangelt. Nicht nur füreinander, sondern vor dem Hintergrund der Fluchtmigration für ebenjene, die nicht mehr das Privileg haben, in Frieden (und Wohlstand) zu leben. Der (durch Krisen bedrohte) Wohlstand ist offenbar ein viel stärkeres Narrativ. Allerdings verbindet es nicht oder nur oberflächlich. Das Wohlstandsnarrativ taugt offenbar nicht zu einer europäischen Meistererzählung, da es primär auf die individuelle Ebene abzielt. Insofern ist es paradox, dass ebenjene sich am meisten mit Europa identifizieren, die ein höheres Einkommen sowie einen höheren Bildungs- und Berufsstatus haben. Weniger paradox erscheint dies, führt man sich vor Augen, dass die Identifikation mit einem abstrakten „Europa“ etwas Anderes ist als eine Identifikation als Europäer und Europäerinnen.
Was Europa also viel mehr zu schaffen macht als die eingangs aufgezählten, „äußeren“ Krisen ist die ursprüngliche, „innere“ Krise, dem Anspruch einer Identifikationsfolie für alle seine Mitglieder gerecht zu werden. Dieser Krise wird sich die Europäische Union kontinuierlich stellen müssen, ohne dass eine endgültige Entscheidung überhaupt möglich wäre.
Foto: Anna Flack.
Literatur:
APuZ 52/2015: Europäische Integration in der Krise.
Étienne Balibar: Europa: Krise und Ende? Münster 2016.
Reinhart Kosellek: Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von “Krise”. In: Ebd.: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Frankfurt am Main 2006, S. 203-217.
Reinhart Kosellek: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt am Main 1979.
Jürgen Link: Zum Anteil apokalyptischer Szenarien an der Normalisierung der Krise. In: Uta Fenske, Walburga Hülk, Gregor Schuhe (Hg.): Die Krise als Erzählung. Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne. Bielefeld 2013, S. 33-47.
Richard Münch: Das europäische Integrationsprojekt in der Krise. Zeichen eines tiefgreifenden Systemwandels? In: Martin Heidenreich (Hg.): Krise der europäischen Vergesellschaftung? Soziologische Perspektiven. Wiesbaden 2014, S. 53-85.
Empfohlene Zitierweise:
Anna Flack: Steckt Europa in der Krise? In: RUB Europadialog, 2017. URL: rub-europadialog.eu/steckt-europa-in-der-krise (6.12.2017).